von Petra Morsbach "Fallhöhe"
Donnerstag, 29. Januar 2009

 Petra Morsbach

Fallhöhe

ALLTAG Ein NVA-Flieger auf dem Weg nach Westen

Zu seinem ersten Flugzeug kam Klaus 1990, als die DDR samt ihrer Luftverteidigung im Untergang begriffen war. Klaus, dem Jagdflieger und Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, schwante schon während der Perestroika nichts Gutes, und als kurz darauf ein Pfarrer Minister für Verteidigung und Abrüstung wurde, wusste er, das ist das Ende. Mitten in diesen Turbulenzen hing auf einmal ein Anschlag im Flugvorbereitungsraum, es würden Pilotenkurse auf An-2 angeboten. Er meldete sich sofort. Die Antonow-2 war ein russisches Militär-Transportflugzeug aus den fünfziger Jahren, ein fünf Tonnen schwerer Doppeldecker, der auf jedem Acker landen konnte, mit vierblättrigem Propeller und einem brüllenden Kolbenmotor. Für den MiG-21-Düsenjägerpiloten Klaus war es wie eine Rückkehr in die Ursprünge des Fliegens. In all der Anspannung und Ohnmacht dieser Monate begeisterte er sich für die An-2. Noch heute nennt er sie sein Lieblingstier und ist sehr erstaunt, wenn man ihn fragt, ob die alte Huddel nicht unsicher zu fliegen sei. "Nee, die trachtet dir nicht nach dem Leben. Die ist genau so gutmütig, wie sie aussieht!"

Bald nach dem Kurs hörte er in der Gaststätte am Biertisch, die NVA verscherbele ihre Antonows. Er fragte seinen General, der von nichts wusste. Wochen später kam ein Brief, er möge sein Angebot einreichen. Und eines Freitagmittags ein Fax, er solle Montag früh um acht im Kommando in Strausberg sein und Bargeld mitbringen, eine An-2 stünde für ihn bereit.

Er fuhr sofort nach Hause, um das mit seiner Frau zu besprechen. Ute war einverstanden. Sie prüften ihre Sparbücher. Er wusste nicht, was ein Flugzeug kostet. Er hatte gut verdient, mehr als ein Kombinatsdirektor; aber was macht man mit einer Antonow? Sie überlegten hastig. Um ein Uhr schlossen die Banken. Zehn vor eins fuhren sie los, um all ihre DDR-Mark abzuheben, 15.000. Und drei Tage später besaß Klaus ein Flugzeug, das er noch nie gesehen hatte.

Zunächst konnte er sich nicht kümmern. Die Vereinigung kam. Es gab eine seltsame Übergangszeit, in der die Piloten zum Dienst gingen und wie besessen mit ihren MiGs herumflogen, während bereits West-Politiker auf Wahlkampf durch die DDR tourten und Beate Uhse ihre ersten Ost-Filialen gründete. Das Kommando hatte sich verabschiedet, sie machten sogar ihre Flugpläne selber. Niemand mischte sich ein, bis eines Tages die Anweisung kam: Alle MiG-21 werden verschrottet. Da greifen sie sich noch heute an den Kopf. Die MiG war ein Traumflugzeug, der meistgebaute Abfangjäger nach dem Zweiten Weltkrieg, in 50 Ländern eingesetzt, weltweit respektiert. Nun wurde von Siegern, die überhaupt nichts geleistet hatten, alles Russische für minderwertig erklärt, und es bleibt ein Rätsel, warum diese hochgerüstete Armee mit ihrer sagenhaften Technik abtrat, ohne einen Schuss zu tun. Die NVA war durch und durch staatstreu, sagt ein Kollege: Die katholische Kirche wäre putschwilliger gewesen als diese NVA.

Einige Piloten wurden zunächst in die Bundeswehr übernommen. Man lud sie zum Militärflugplatz Fürstenfeldbruck ein, wo sie drei Tage Gehirnwäsche bekamen und einmal in einem Alpha-Jet mitfliegen durften, den sie bis dahin nur als Feindmuster kannten. Die Kündigung kam Ende des Jahres 91.

Klaus bewarb sich überall. Er war sehr viel geflogen, 160 bis 170 Flugstunden pro Jahr, sein Trainingszustand war perfekt. Er hatte sogar, dank des Antonow-Kurses, ein ziviles Muster in seinem Flugbuch und bekam problemlos den Zivilflugschein. Aber niemand wollte ihn. Für einen Job wäre er zu Fuß bis nach Wittmund an der Nordsee gegangen, sagt er. Er war 42 Jahre alt, Ute, die im selben Jahr ihre Stelle als Buchhändlerin in einer NVA-Buchhandlung verlor, 39. Sie hatten zwei Kinder im Alter von 19 und 12.

Ute erzählt: Während der DDR-Zeit wohnten wir im Block, weil wir die Alarmhupe hören mussten, die zum Einsatz rief. Es gab Huptöne mit verschiedenen Intervallen, die Verschiedenes bedeuteten von Übung über Probealarm bis Kernwaffenangriff, und außerdem gab es jeden Tag um 18 Uhr eine kurze Probe, ob die Hupe noch ging: Täät. Jeden Tag fünf Minuten nach diesem Ton war die Straße wie leergefegt, alle Kinder beim Abendessen - alle Mütter, auch die zivilen, hatten sich darauf eingestellt. Nach der Wende blieb plötzlich diese Hupe weg, und von einem Tag auf den anderen war die Straße nicht mehr leergefegt, sondern überall rannten Mütter kreuz und quer zwischen den Blocks herum auf der Suche nach ihren Kindern ...

Dann kam vom Stützpunkt ein Anruf, Klaus möge doch bitte seinen Doppeldecker wegräumen: Die An-2, die er dort abgestellt und tatsächlich irgendwie vergessen hatte.

Über die letzten Monate des Jagdgeschwaders X zwischen September 1990 und März 1991 gibt es ein Amateurvideo, das einer der Kameraden nicht ganz legal gedreht hat. Im wesentlichen zeigt es Flugzeuge, die starten, herumfliegen und landen. Ganz selten sieht man Männer, die die Flugzeuge über Drahtleitern besteigen. Fast alles ist mit Musik unterlegt, die nach einer rauschhaften Ouverture mit "Die Stunde des Siegers" immer trauriger wird. Eine nüchterne Pilotenstimme referiert aus dem Off in leichtem Sächsisch die Geschichte des JG X und die Parameter der legendären MiG-21: "... hat eine Länge von 15,76 Metern und eine Flügelspannweite von 7,15 Metern. Ihr Tumanskij-Strahltriebwerk leistete 7500 Kilopond mit Nachbrenner, damit erreichte sie eine Geschwindigkeit von 2450 km/h, die Dienstgipfelhöhe betrug 17.500 Meter."

Die Flieger starten zu ihren letzten Flügen. Wir sehen Formationsflüge Flügel an Flügel und verschiedene Manöver. Die MiGs rollen um ihre Längsachse, steigen in die Stratosphäre empor und zünden Nachbrenner, worauf sie mit einem Feuerschweif aus dem Bild schießen. Sie starten von Beton- und Graspisten, zuletzt - es ist Winter geworden - von bereiften Wiesen. Gefasste Grabesstimme: "Am ... März 1991 wurden die MiGs nach Drewitz zur Verschrottung überführt." Auf den Rümpfen steht jetzt als Hoheitszeichen der NATO-Balken, außerdem haben die Piloten mit Kreide ihre Namen und einen Dank an die Techniker auf die Flugzeuge geschrieben. Piloten und Bodenpersonal stehen ratlos um diese eleganten Tiere, auch per Video überträgt sich das Pathos des Augenblicks. Ein Pilot hat seine grüne MiG weiß angemalt, fast ganz weiß bis auf das rotgelbe Seitenruder und vorn unter der Nase ein grinsendes rotes Haifischmaul mit dreieckigen Zähnen. Eine lange Sequenz gilt nun dieser weißen MiG, die in der Bemalung seltsam fragil wirkt und doppelt elegant, eine Mischung aus Opferlamm und Raubfisch. Auch sie spielt mit der Luft, dreht sich mit 1000km/h auf den Rücken, der Pilot rast nun kopfüber neben dem Flugzeug mit dem Kameramann her, dann springt er sozusagen wieder auf die Füße und steht friedlich auf einem Acker. Die sachliche Pilotenstimme spricht: "Zum letzten Mal erhebt sich der weiße Hai in die Lüfte ...", und man müsste gefühllos sein, um hier die Metaphernsicherheit zu bemängeln. Das letzte Bild gilt den in Drewitz abgestellten MiGs. Eine Epoche ist zu Ende.

Aber das Leben geht weiter, und die nächste Sequenz zeigt ein kleines Flugplatzfest. Die nüchtern sächselnde Stimme erklärt, dass die Kameraden, inzwischen Sportsfreunde, miteinander einen Flugsportklub Wartburg gegründet haben. Standort ist ein sowjetischer Feldflugplatz bei Erfurt, die Russen haben sie großzügig zur Mitnutzung eingeladen, und nun sieht man die zuvor uniformierten Jetpiloten in bunten Trainingsklamotten um alle möglichen westlichen Billigfluggeräte herumstehen. Diesmal sind die Ehefrauen dabei, größere und kleine Kinder wuseln herum, und der Grill kokelt. Grillen, sagt Ute, war eine Haupt-Freizeitbeschäftigung der DDR-Kampfflieger. Gerade die, die neben Militärflughäfen auf dem Dorf lebten, hatten wenig anderes zu tun: Sie rauchten nicht und tranken nicht, also stellten sie sich nach dem Dienst in den Garten und grillten. Jede Passage des Videos zeigt von nun an grillende Flieger, die zwischendurch Ultraleicht-Dreiachser und Trikes auseinanderbauen, wieder zusammensetzen und damit fliegen. Es wirkt ein bisschen so, als würden Elefantendompteure sich auf einmal mit weißen Mäusen befassen, wobei das Überzeugende darin liegt, dass sie eben wirklich alle Tiere lieben. Das Video endet damit, dass die Sportsfreunde Uwe und Klaus von ihrer Abfindung zusammen für 20.000 Mark ein Ultraleichtflugzeug kaufen, um eine Flugschule zu gründen (alle Sportsfreunde haben inzwischen den Fluglehrerschein, und alle haben Flugenglisch gelernt). Man sieht die UL im Anflug, dann setzt sie auf der Graspiste auf und rollt auf die Kamera zu, eine lange, feierliche Einstellung wie Applaus. Ein paar Bilder zeigen noch, wie die Freizeitmänner im Eigenbau einen Tower errichten. Und am Bildrand erscheint kurz eine dunkelgrüne Flügelspitze der Antonow.

Klaus, Bernd und Uwe haben nämlich einen Privatflugplatz gegründet. Nach dem Abzug der Russen 1992 hat die Dorfjugend begonnen, die russischen Einrichtungen zu demolieren, da kamen sie auf die Idee, den Flugplatz zu übernehmen. Inzwischen hatte die Luftfahrtbehörde dem Platz aber die Zulassung entzogen. Klaus musste einen neuen Antrag stellen. Den Lageplan schrieb er selbst, hatte er ja gelernt, aber nun hieß es, so einfach sei das nicht, und damit beginnt das nervenzerfetzende Kapitel "Klaus im Kapitalismus".

Die Bürokratie sei das Schlimmste an der neuen Bundesrepublik, findet Klaus. Ein Riesenapparat aus Ämtern will beschäftigt werden und kassiert andauernd ab, obwohl wir doch diese Leute schon mit unseren Steuergeldern ernähren. An die gekoppelt ist eine Schar von Gutachtern, die ebenfalls dauernd mitkassieren, und zwar prozentual zum Gegenstandswert. Der Unternehmer wird nach allen Regeln der Kunst ausgesaugt, bevor er die erste Leistung erbringen darf.

Ein unabhängiger Gutachter sollte also die Flugplatz-Tauglichkeit dieses Ortes, der 60 Jahre lang Flugplatz gewesen war, bestätigen. Klaus schickte ihm seine Pläne und Daten und wartete. Monate später stieg ein uralter Gutachter, gefolgt von einer ebenso alten Frau im Pelzmantel, aus einem Mercedes und ging auf den Wohnwagen zu, in dem Klaus und Ute kampierten (die Dorfjugend hatte die russischen Einrichtungen inzwischen ganz zerstört). Klaus und Ute liefen ihnen erwartungsvoll entgegen, sie dachten, er werde ihnen jetzt das Gutachten überreichen, aber die Frau im Pelz sagte: "Wir haben noch gar nicht angefangen. Wir haben gehört, Sie hätten kein Geld, und wollten Sie davor bewahren, sich in Schulden zu stürzen!" Schließlich kam für 25.000 Mark ein Gutachten, das wesentlich ungenauer war als das von Klaus erarbeitete und verschiedene Fehler enthielt: Der Mann hatte mehrere Flugplätze der Gegend vermessen, sie teilweise verwechselt und Deckblätter vertauscht. Klaus reichte den Antrag ein, und die Sachbearbeiterin sagte: "Kommen Se in drei Monaten wieder, ick mach grad die Fortbildung, ick kann det noch nich!" Er begann zu bauen, weil er den Sommer nicht verstreichen lassen durfte, und bekam eine Geldstrafe von 15.000 Mark wegen Bauens ohne Genehmigung. Er durfte einen Hangar nicht fertig stellen, eine kleine gebrauchte Cessna-150, die er in Einzelteilen aus Kanada geholt und hier zusammengebaut hatte, wurde am Boden vom Sturm zertrümmert. Die Genehmigung des Towers wurde teurer als der Tower selbst. Und so fort. Es gab Zeiten, da hat Klaus die Post nur noch geöffnet, wenn "Einschreiben" darauf stand. Die beiden Mitgründer verloren den Mut und setzten sich ab, übrig blieben Klaus und Ute, die zwar Ideen und Charme hatten, aber wenig marktwirtschaftliche Sachkenntnis und überhaupt kein Kapital.

Die Geschäftsidee war: Flugzeugvermietung mit und ohne Piloten; Flugunterricht; Camping für Flugzeugfreaks; außerdem Flugverkehr für Privatflieger: Flugbenzintankstelle, Werkstatt, Restaurant. Sie machten alles selbst: Ute führte Buch, kochte, nähte Sitzbezüge für die An-2, flickte Vorhänge, schnitt Klaus die Haare (sie kann wirklich alles), Klaus gab Flugunterricht, mähte das Gras auf der Piste, mauerte einen Hangar, reparierte Flugzeuge und kümmerte sich um die sanitären Installationen; abwechselnd bewachten sie das Funkgerät. Nebenbei, wann immer ein paar Mark übrig waren, bauten sie. Drei Winter kampierten sie auf dem Platz, gruben eine Kanalisation, verlegten Kraftstromleitungen und setzten Container zusammen. Im vierten Winter bezogen sie endlich ein beheizbares Holzhaus. Letztes Jahr, im neunten Winter, haben sie zum ersten Mal eine Woche Urlaub gemacht, in Mallorca. Ute ist eine schöne, gepflegte Frau mit einer feinen Stimme. Früher liebte sie Städte und Theater, las Bücher, interessierte sich für Mode und trug Stöckelschuhe, sie bemitleidete Jagdflieger-Frauen, die auf dem Dorf wohnten. Jetzt lebt sie neben einer Graspiste zwischen Äckern und Waldrand, durch einen löchrigen Feldweg vier Kilometer von der nächsten Siedlung getrennt. Das war nie ihr Traum, aber sie sah ein, dass Klaus fliegen muss.

Klaus musste immer fliegen. Weil er zum entscheidenden Zeitpunkt 18 Jahre alt, impulsiv und selbstverständlich heimatliebend war, wollte er Jagdflieger und kein Zivilpilot sein. Heute sagt er, der Krieg habe ihn einfach interessiert. Er wollte alles darüber wissen und hat alles darüber gelesen. Als ein Werber in der Schule Offiziersnachwuchs suchte, meldete er sich sofort für die Luftwaffe. Nach einer harten vierwöchigen Prüfung blieb er mit fünf anderen aus einer 60köpfigen Gruppe übrig. Die Ausbildung war streng und intensiv, wegen Nachwuchsmangel und Kaltem Krieg auf dreieinhalb Jahre verkürzt. Sie durften die Kaserne kaum verlassen, dafür lernten sie auf Düsenjägern, sie waren die jungen Wilden, die sich die Überschall-MiGs eroberten, während die Alten von ihren Jak-11 und MiG-15 nicht wirklich loskamen. "Vorn marschiert sich´s leichter", sagt Klaus. Am liebsten wäre er nach der Ausbildung in Peenemünde oder Marxwalde stationiert worden, wo es die neueste Technik und die interessantesten Einsätze gab, wegen der Grenznähe: Immer wieder verletzten dort NATO-Flieger den Luftraum der DDR, es war gewissermaßen deren Sport, den Leuchtturm von Puttgarden von der Landseite aus zu fotografieren. Weil Klaus schon verheiratet war und ein Kind hatte, wurde er aber nach Cottbus versetzt. Mit 27 war er als Flieger in der höchsten Leistungsklasse, er bekam eine ehrenvolle Zulassung zur Militärakademie Friedrich Engels in Dresden und schlug sie aus, weil Ute schwer krank geworden war und er nicht vier Jahre von ihr getrennt sein wollte. Dafür wurde er vom Kettenführer zum Unterflieger degradiert. Aber er sagt, das habe ihm nichts ausgemacht. Hauptsache, er konnte weiter fliegen. Und so ging es weiter. Er flog und flog, rückte wegen einiger tödlicher Unfälle doch noch als Quereinsteiger auf eine Akademie-Planstelle und war am Schluss Steuermann des JG X. Als Kommandeur in Vertretung hätte er in den letzten Tagen der DDR beinahe noch einen Abschussbefehl weitergegeben: Er saß im Gefechtsstand, und man meldete ihm ein unaufgeklärtes Flugobjekt über Magdeburg, das sich Richtung Wittenberg bewegte. Er telefonierte mit dem Divisionskommandeur, der immer hektischer wurde, die Entscheidung war - auch noch 1989, bei dieser allgemeinen Hysterie! - in zwei Minuten zu fällen, Folgen unausdenkbar, zwei Minuten Schock. Klaus dachte: Warum muss ausgerechnet ich jetzt hier sitzen? Wenn der verlangt hätte, das Objekt abzuschießen, hätte er das weitergeleitet, "Hundert Pro", aber ihm wurde ganz schlecht.

Was hat ein Jagdflieger gemacht? Er sollte aufsteigen, falls jemand den Luftraum der DDR verletzte, den Eindringling zur Landung zwingen und im Ernstfall abschießen. Ernstfälle ergaben sich nicht, weil beide Seiten auf der Hut waren. Damit sie es blieben, wurde auf beiden Seiten ständig mit ungeheurem Aufwand geprobt.

Das Grundszenario war: Jeweils zwei einsatzbereite Piloten - das so genannte diensthabende System (DHS) - warten zwölf Stunden lang in einer Baracke, vor der die Flugzeuge stehen. Auf den Hupton hin müssen sie binnen vier Minuten einsatzbereit in ihren Cockpits sitzen: im Druckanzug, mit Helm, Handschuhen, Sauerstoffmaske, Karten und Codeunterlagen, vollwach. Auf der Leiter stand ein Helfer, der dich anschnallte, sagt Klaus, währenddessen drücktest du den Anlasser, der Mechaniker zog die Sicherungsstecker und zeigte sie dir, der Helfer schloss das Dach, du hast verriegelt und hermetisiert, dann rolltest du los, nahmst Funkverbindung auf und bekamst den Startbefehl. Fünf Minuten nach dem Hupton warst du in der Luft. Eine weitere Minute später erreichtest du einen vereinbarten Luftraum, ändertest die Frequenz und warst mit dem Gefechtsstand verbunden. Der Leitoffizier unten am Radar rief: "Natschalo navedenija!", auf russisch Beginn des Leitens: er leitete dich zum Ziel, das du nicht kanntest. Alles auf Russisch: "Kurs 28, vysota (Höhe) 7.000 metrov, skorost´ (Tempo) 1000, udalenije (Entfernung) 40 km" und so weiter, der redete ununterbrochen, während du mit 1000 km/h Richtung Ziel hämmertest. Wenn du das Ziel sahst, sagtest du: "Ja vishu zel´" (ich sehe das Ziel), dann atmete der unten durch, durfte er aber nicht, du musstest ihn anpfeifen, damit er keine Sekunde nachließ, denn wahrscheinlich war´s Nacht oder Wolken, Regen, Gewitter, eine halbe Minute Flug sind bei dem Tempo acht Kilometer, und das Ziel bewegt sich ja auch! Die Breite des Operationsfeldes beträgt vielleicht sechs Flugminuten, außerhalb dieses Feldes wirst du möglicherweise (östlich) noch von den Polen abgeschossen oder (westlich) von den Russen. Wenn du das Ziel im Visier hattest, warst du am Zug. Das ist das Kreative bei dieser Art Fliegerei, dass der Pilot oben selbst die Entscheidungen trifft, in einer höchst dynamischen, ebenso abstrakten wie lebensgefährlichen Situation, mit einer maximal diffizilen und effizienten Technik.

Die Ernstfallaufgabe (Abschuss) war so gegliedert: Annäherung an das Ziel mit einem Tempo von bis zu (in der Stratosphäre) 2 Mach (doppelte Schallgeschwindigkeit). Flugzeug in Position bringen, Luftziel identifizieren, Visier vom Übersichtsbetrieb auf Zielbetrieb umschalten. Zielbedingungen schaffen: bestimmte Entfernung, bestimmte Höhe, bestimmter Zielwinkel. Entscheidung, welche Rakete du abschießt. Wenn die Schussentfernung erreicht ist, Kampfknopf drücken, dann sofort vom Ziel lösen. Zeitreserven für viele Manöver gibt es nicht, vor deinen Augen läuft eine Stoppuhr: Der Tank fasst bei voller Bewaffnung nur 2.650 Liter Flugbenzin, von denen sind bei einem scharfen Einsatz 2.000 in 20 Minuten verballert.

Nein, kein hocherregendes Männerspiel, findet Klaus. Sondern Konzentration, Präzision; Strategie, Aktion, Zahl. Wenn du geschossen hast, ist zum Beispiel die Trefferwahrscheinlichkeit noch lange nicht gleich eins, und bei einem Treffer ist auch die Vernichtungswahrscheinlichkeit nicht eins, sondern nur 0,92. Pure Nerven- und Maßarbeit. Kein Gefühl, nein.

Heute erzählen leutselige Wessi-Privatpiloten Klaus gelegentlich, wie viele MiGs sie gestern auf dem Flugsimulator abgeschossen hätten, und dann blickt Klaus zur Seite und lächelt und sagt nichts. Er hat den Film "Top Gun" (Tom Cruise als infantilen US-Jagdflieger) gesehen und bestaunt die Naivität der Amerikaner, die solche Filme ernst nehmen. Eigentlich tun sie ihm sogar ein bisschen leid.

Und die politische Seite?

Er hat den Fahneneid geschworen! Das bedeutet ihm etwas. Er war zur Friedenssicherung da. Sie wurden bedroht: Nachrüstung, NATO-Doppelbeschluss, Vietnam, Naher Osten. Er glaubte an den Sozialismus. Er hatte das Gefühl, das Land gehöre wirklich den Bürgern, und dafür setzte er sein Leben ein. Natürlich sah er, dass manches im Argen lag, aber er dachte, anderswo läge es im Ärgeren. Er selbst geriet nur einmal mit dem Staat in Konflikt, als nach einer Modernisierung sein Flugzeug ohne Periskop (eine Art Rückspiegel) aus der Werft zurückkehrte. Da reklamierte er heftig: Ohne Periskop ist der Pilot nach hinten blind! Sehen ist oben alles, wer den andern als erster sieht, ist der Sieger! Die Werft redete von Einsparungen. Klaus ließ nicht locker: Das Periskop ist lebensnotwendig! Was habt ihr euch bloß dabei gedacht? Aber dann stellten "die" die Vertrauensfrage (Zweifelst du an dem, was Partei und Staatsführung für richtig halten?), und da hat er sich gefügt.

Das war schon Ende der achtziger Jahre, und die für das JG X größte und befriedigendste Übung stand bevor: In Astrachan durften sie "lebende Ziele" abschießen, nachdem sie jahrelang nur mit Zielfotos geübt hatten. In Russland regierte bereits Gorbatschow, die Auflösung der Sowjetunion war im Gange, da flogen sie mit ihren MiGs Tausende Kilometer an der Südgrenze der SU entlang nach Astrachan, wobei die andere Seite ständig ihren Funkverkehr störte, und bereiteten den Einsatz penibel vor. Die lebenden Ziele waren fünf unbemannte sowjetische La-17, die per Fernsteuerung auf fünf verschiedene Höhen gelenkt und dort vom JG X erlegt wurden. Jetzt zeigten die Piloten noch mal ihr ganzes logistisches und choreographisches Können: Vier Jäger starteten auf verschiedenen Wegen für jede La-17, jeder musste seine Zielannäherung auf 15 Sekunden genau berechnen, jede Höhe stellt andere Anforderungen, jeder hatte zwei bis vier Raketen, jeweils die erste musste treffen. Sie erledigten die Aufgabe bravourös, und zur Feier grillten sie in der astrachanischen Steppe.

Hochleistungsflieger sind vielleicht so was wie Künstler. Was immer ihr Handwerk ist, sie müssen es unbedingt tun und nehmen dafür viel in Kauf; manche sogar Krieg, wie man sieht. Wenn sie nicht gebraucht werden, riskieren sie Geldnot, Rückschläge, Demütigungen, Pleiten. Aber nicht jeder hält das jahrelang durch. Etliche Kameraden seien nach der Wende "zerbrochen", sagt Klaus: hätten zu trinken angefangen, ihren Pilotenschein verloren und sich sogar scheiden lassen (für Klaus die schlimmste aller Vorstellungen). Einer hockt in einem zwölf-Quadratmeter-Zimmer in Rostock, und ab und zu kauft er sich aus Verzweiflung eine Fliegeruhr. Einer brachte in einer gecharterten 2-Mot für Geld Fallschirmspringer auf 3000 Meter Höhe, aber er bezahlte weder die Charter noch das Flugbenzin, das ihm Klaus vorstreckte (insgesamt 15.000 Mark), und ist trotzdem jetzt zahlungsunfähig. Einer möchte in die Hochfinanz aufsteigen und chartert von Klaus Flugzeuge, die er nicht bezahlt. Die realistischen Kollegen hängten die Fliegerei an den Nagel. Einer ist Unternehmer für Alarmsysteme, einer für Sondermüllentsorgung, einer stellt Fensterrahmen her, einer baut Garagen, und alle finden es verdammt hart.

In der Fliegerei haben sich nur wenige gehalten. Harald, obwohl der älteste von ihnen, hat alle Berechtigungen der westlichen Zivilluftfahrt nachgeholt und jobbt jetzt als IFR-(Instrumentenflug-)Lehrer in Frankfurt. Wenn er Klaus trifft, ruft er: "Klaus, altes Haus!" und umarmt und schüttelt Klaus minutenlang, während er von privaten Flugabenteuern erzählt: wie er zum Beispiel kürzlich nach einem Nachtflug morgens früh in Hamburg gelandet sei, wo vor sechs Uhr sündteure Landegebühren verlangt werden, so dass er den Anflug mit allen Tricks streckte, noch ne Klappe zog, und noch ne Klappe (Drehzahl, Schweben), ... und um 6:00:12 aufsetzte.

Bernd, ehemaliger Mitgründer, ist nach einem zweijährigen Intermezzo in der Versicherungsbranche zu Klaus zurückgekehrt: Ohne Fliegen hielt er es nicht aus. Er ist jetzt Klaus´ Angestellter, verdient wenig und trägt die Kleider von damals. Er ist heute 44, ein hübscher, geistesabwesender Mann mit verträumten Augen.

Zwei Kameraden haben es wirklich geschafft. Die waren allerdings zehn Jahre jünger. Einer ging als Flieger nach Kuweit, wurde Moslem und fährt heute seine verschleierte Frau im BMW zum Gemüsemarkt. Der andere, Uwe, zweiter Flugplatz-Mitgründer, erwarb auf eigene Kosten die Verkehrspilotenlizenz und fliegt jetzt für Condor. Kürzlich meldete er sich per Funk aus Flight Level 350 in über zehn Kilometer Höhe und erbat im Scherz die Überfluggenehmigung für seine Boeing 747. "Ist gut, Uwe", sagte Klaus, "kannst weiterfliegen - Abfangjäger bleiben unten."

Auch Klaus ist immer noch dabei, und vielleicht verdankt er das seiner Antonow. Auf einem kleinen Flugplatz in Hessen kurz nach der Wende sahen nämlich Flugzeugliebhaber die große Maschine nach einem Startweg von nur 200 Metern abheben und waren so begeistert, dass sie sich in ihre Autos warfen und 50 Kilometer weit zu seinem Zielort fuhren, nur um einen Rundflug zu erbitten. Jeder zahlte 100 Mark, neun passten in die Kabine, und seitdem bietet Klaus gelegentlich auf Flugplatzfesten Rundflüge mit der An-2 an und verdient damit, endlich mal, Geld.

Jetzt sehen wir ihn, fünfzigjährig, in Aktion auf seinem romantischen selbstgebauten Flugplatz. Ein langer, heißer, wolkenloser Sommersonntag. Klaus ist braun gebrannt, impulsiv wie je, ein Optimist, der einen Wirbel von Sorgen hinter sich herschleppt. Der Laden brummt, im Fünfminuten-Takt landen Privatpiloten aus Hof oder Paderborn-Lippstadt, um hier einen Kaffee zu trinken und Utes leckere Pfannkuchen zu essen. Dann sitzen sie auf der Grasterrasse, beobachten Flugzeuge und erklären Klaus, dass sie ihre Firmen verkauft hätten, weil mittelständische Unternehmen sich heute nicht mehr lohnen. Klaus schluckt dann wahrscheinlich und denkt an die vergangene Woche.

Am Montag hat ihn zum soundsovielten Mal sein Geschäftsfreund, der aus der Hochfinanz, um einen Flug gebeten ("ganz großes Ding! Ein bosnischer Millionär, inkognito!"), und er hat den abends um acht nach Rügen geflogen und am nächsten Morgen um neun zurück. (Vorher hat er noch um sechs Uhr mit einer Cessna-172 BILD-Zeitungen nach Bornholm geflogen, weil ihn die Rügener gebeten haben; denen war ein Pilot ausgefallen. Und wer sich wundert, dass ein ehemaliger NVA-Offizier vor dem Frühstück ohne Lohn BILD-Zeitungen nach Dänemark fliegt, muss zweierlei bedenken: Erstens Klaus´ notorische Hilfsbereitschaft, und zweitens, wie soll man sagen: Wenn er ein Flugzeug ohne Piloten sieht, kann er nicht anders, dann muss er los.)

Später an diesem Dienstag hat er angefangen, zusammen mit seinem Sohn Michael den Boden des Hangars zu betonieren. Am Mittwoch haben sie weiterbetoniert. Währenddessen fuhr ein Flugschüler mit der Cessna 152 über eine Bodenlampe, der Propeller ist verbogen, das Triebwerk hin.

Am Donnerstag war der Baudezernent da, ein gutaussehender, großer Mann mit blitzender randloser Brille und einem spöttischen Dauerlächeln, Klaus kennt und fürchtet ihn seit Jahren, zwei Stunden mit dem sind anstrengender als eine Woche Kunstflug. Am Freitag kam per Post eine Beseitigungsverfügung: Klaus habe binnen drei Monaten seinen Campingplatz zu schließen und alle Wohnwagen und Container abzuräumen, für die Ausfertigung des Bescheids wird eine Gebühr von 600 Mark erhoben. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Vor drei Wochen war Klaus beim Landrat, um Unterstützung zu erbitten: Überall im Land würden von den Kommunen für Millionen Mark neue Flugplätze gebaut, auf denen niemand landet, warum könne man ihm mit seinen 24.000 Flugbewegungen pro Jahr nicht wenigstens eine Straßenanbindung bauen? Der Landrat, ein gepflegter, zufriedener Mann, sagte: 1. habe Klaus immer noch keine Genehmigung für seinen Campingplatz beantragt (das stimmt: Klaus trotzt), und 2. sehe der Flugplatz plundrig und unprofessionell aus, der russische Beton-Postenpilz stehe immer noch neben den Dixi-Kisten, Klaus müsse endlich seine Ossi-Mentalität ablegen, alles aufzuheben. Keine Straße zu diesem Flugplatz! Klaus war über den Vorwurf der Unprofessionalität betroffen: schließlich fliegt weit und breit keiner besser als er. Es gibt einen virtuellen Klaus (den gibt es wirklich), der nun über den Tisch gegangen wäre, um den Landrat an der Krawatte zu packen: "Hör mal, ich bin schon Überschall geflogen, da bist du noch mit ´ner Trommel um den Weihnachtsbaum gerannt!" Aber der reale Klaus, gebeutelt von den Tücken der bürokratischen Marktwirtschaft, hat nur gefragt, ob der Landrat ihn ruinieren wolle. Der Landrat sagte, nein, er sei "für" den Platz. Drei Wochen dachte Klaus darüber nach, was das bedeuten könnte. Nun also die "Beseitigungsverfügung".

Am Samstag musste er nach Kassel zum Begräbnis eines Freundes. Der Freund war in der Vorwoche mit seiner Cirrus gegen ein Mietshaus geflogen. Ein großes, sicher das schlimmste Unglück: Werner ist außerdem Klaus´ Steuerberater gewesen, der erste, der Klaus in Unternehmensdingen unterstützt und aufgeklärt hat. Werner war es auch, der vor fünf Jahren einen Modus fand, dass Klaus und Ute ein Gehalt bekommen: jeder brutto 2.000 Mark.

Allmählich wird es Abend. Ein Freund bittet Klaus, ihn beim Kunstflug zu begleiten, also drehen sie Loopings, sausen steil in die Luft, bis die Maschine kippt, trudeln senkrecht auf den Wald zu und fangen ab. Auf den Körper wirken bei solchen Übungen Kräfte vom bis zu Fünffachen seines Gewichts, manche Menschen verlieren da das Bewusstsein, aber Klaus steigt lächelnd aus der Maschine, als habe er gerade einen Tulpengarten betrachtet, und trägt für Gäste das Bier auf die Terrasse, das Ute gezapft hat, während Sohn Michael in der Küche Schnitzel und Kartoffeln brät. Die Wirbelschleppe aus Sorgen ist wieder da. Später essen Klaus und Ute zu Abend, wobei sie das Funkgerät bedienen und gelegentlich aufspringen, um Leute zu bedienen. In diesem Bilderbogen läuft wie im Traum hinter Klaus ein Mann mit einer grauen NVA-Jacke vorbei, und Klaus murmelt geistesabwesend: "NVA..." Klaus´ Freund Thomas, Ex-Kamerad auf Besuch, sagt: "Aber Klaus, diese Jacken gibt´s auf dem Flohmarkt für 50 Mark!", und dann ist es Nacht.

Im Dunkel landet noch Freund Heinz. Heinz war früher bei der Bundeswehr, hatte mit 41 seinen Abschied genommen und arbeitet heute als freischaffender Luftfrachtpilot auf Elektra (2-Mot Turboprop), aber er kann auch alles andere fliegen, von P-51 bis Fieseler Storch: ein großer dünner Mann mit scharfen, entrückten Pilotenaugen, einem löchrigen Blouson und ausgetretenen Stiefeln, 45 Jahre alt. Frachtflieger sind vor allem nachts unterwegs, ein Knochen-Job, nur heute hat Heinz frei, deshalb ist er mit seiner privaten Aero-45 bei Klaus vorbeigekommen. Weil er so viel unterwegs ist, unterhält er keine Wohnung. Er schläft mal hier, mal da bei Freunden und gerne auch bei Klaus im Hangar unter dem Flügel der Aero-45. Früher, in seiner Bundeswehrzeit, war er auf Logistikflüge in umkämpftes Gebiet spezialisiert. Jahrelang flog er Transalls über dem zersplitternden Jugoslawien.

Wenn jetzt einer Klaus nach seinem militärischen Spezialgebiet fragt, antwortet er mit seinem leichten anhaltinischen Zungenschlag: "Ich wor dozu do, ihn abzuschießen!", und dann schenken die beiden einander einen warmherzigen Männerblick. Heinz erzählt, dass kein Tag vergehe, an dem er nicht fliegt, und Klaus fällt ein: "Eigentlich haben wir´s doch gut! Wer konn dos schon von sich sogen, dass er morgens aufsteht und gleich durchs Fenster ein Flugzeug sieht?"

Draußen steht angepflockt die An-2 im Dunkeln mit ihren breiten, gutmütigen Flügeln.

Petra Morsbach, geboren 1956, ist Schriftstellerin und lebt in Pöcking am Starnberger See. Zuletzt von ihr erschien der Roman Geschichte mit Pferden im Eichborn-Verlag. Am 23. November 2001 wird ihr der  Ingolstädter Marieluise Fleißer-Preis verliehen.